Ostdeutsche Dissidenten und die Erinnerung an die Shoah

In den 80er Jahren zogen oppositionelle Kreise der DDR mit Frage nach der (ost-)deutschen Schuld an der Shoah die Legitimation der DDR als „antifaschistischen“ Staat in Zweifel und forderten eine offene Auseinandersetzung mit der Geschichte. 


Synagogue de la Oranienburger StraßeNach der friedlichen Revolution vom Herbst '89 bekannte sich das erste demokratisch gewählte DDR-Parlament zu den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Als Geste der Wiedergutmachung gewährte sie sowjetischen Juden Asyl. Dieser Einladung folgten bis heute 200.000 Menschen.

Im Sommer 1990 breitet sich in Moskau ein Gerücht aus: Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte. Laut offizieller ostdeutscher Propaganda lebten alle Altnazis in Westdeutschland.“ Mit diesem Gerücht beginnt Wladimir Kaminers im Jahr 2000 erschienenes Buch Russendisko, so schreibt er darin auch über seine eigene Emigration aus der Sowjetunion zehn Jahre zuvor. Wie für solche Gerüchte typisch, hatten die darin enthaltenen Informationen auf dem Weg von Berlin nach Moskau ein wenig an Genauigkeit eingebüßt: So war es natürlich nicht Erich Honecker, der ja schon im Herbst 1989 seine Posten in Staat und Partei hatte räumen müssen, der den sowjetischen Juden Asyl anbot. Und es war auch keine Wiedergutmachung für die unterbliebenen Zahlungen der DDR an Israel. Tatsächlich aber hatte die erste – und einzige – frei gewählte Volkskammer, wie sich das ostdeutsche Parlament nannte, am 12. April eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen veröffentlicht. Darin bekannten sich die Abgeordneten erstmals zur Mitschuld der Ostdeutschen an den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs im allgemeinen und an der Shoah im besonderen. Als Geste der Wiedergutmachung für diese fehlende Auseinandersetzung mit der Schuld der Ostdeutschen, sollten nun sowjetische Juden, die in ihrer Heimat diskriminiert wurden, in der DDR Asyl erhalten.

Die DDR als antifaschistischer Staat und die Verdrängung der Schuld an der Shoah

Der letzte Punkt, der laut Kaminer, im Moskau des Sommers 1990 kolportiert wurde, war wohl am nächsten an der Wahrheit geblieben: Die vorangegangenen sozialistischen Regierungen der DDR hatten sich auf den Standpunkt gestellt, dass der erste „antifaschistische Staat auf deutschem Boden“ im Gegensatz zur BRD nichts mit der Nazivergangenheit zu tun hätte. Der vor allem kommunistisch geprägte antifaschistische Widerstand als Gründungsmythos der DDR und die damit verbundene Zurückweisung einer, wie auch immer gearteten, moralischen Verantwortung der Bürger dieses Staates für die deutschen Verbrechen, hatte eine wichtige Funktion für die ostdeutsche Gesellschaft erfüllt. Indem der Widerstand Weniger durch die Staatsideologie auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet wurde, ermöglichte der junge Staat seinen Bürgern das Verdrängen der Schuldfragen und band sie zugleich an sich. Schließlich funktionierte die Entlastung nur über das Bekenntnis zum sozialistischen und antifaschistischen Staat. [1]

In den 80er Jahren jedoch begannen vor allem jugendliche Dissidenten, die sich zumeist unter dem Dach der evangelischen Kirche trafen und kleine Gruppen bildeten, diesen Propagandamechanismus zu hinterfragen. Das Interesse an jüdischer Kultur, durch Filme, Literatur oder (Klezmer-)Musik geweckt, nahm auch in der DDR zu und brachte nicht selten die Frage mit sich, warum zwar in unzähligen Gedenkstätten, in Schulbüchern und Zeitungsbeiträgen den antifaschistischen Widerstandskämpfern gedacht wurde, die sechs Millionen ermordeten Juden jedoch kaum eine Rolle spielten. Diese Gruppen begannen nun eigene Gedenkveranstaltungen zu organisieren, oft aber nicht ausschließlich im kirchlichen Rahmen. Verließen sie diesen Rahmen, stießen sie auf den Widerstand der Behörden, wie folgende.

Unabhängiges Gedenken an die Pogromnacht in den 80er Jahren

So kam es beispielsweise am 9. November 1983 in Leipzig, im Anschluss an ein Friedensgebet zum Gedenken an die Pogromnacht zu einer kleinen Demonstration einiger Dutzend Jugendlicher durch die Leipziger Innenstadt zum Gedenkstein der niedergebrannten Synagoge. Bei dem Versuch dort Kerzen abzustellen wurden sie jedoch auseinandergetrieben. Für die diensthabenden Volkspolizisten handelte es sich um eine nicht genehmigte „Ansammlung von Personen mit brennenden Kerzen“, die auch durch den Anlass den sie im Polizeibericht notierten: „Gedenken der Opfer der Niederbrennung der Synagoge“, nicht gerechtfertigt war.
br> Ein Jahr später veranstaltete in Berlin ein Friedens- und Umweltkreis eine Mahnwache an der zerstörten Synagoge in der Oranienburger Straße. Ihr Ziel war es nicht mehr nur, den Opfern der Pogromnacht zu gedenken sondern auch auf die Widersprüche zwischen antifaschistischer Rhetorik und tatsächlichem Handeln der DDR-Regierung hinzuweisen. Explizit kritisierten sie den einseitigen Umgang mit der Geschichte des Dritten Reichs, das Verschweigen von Rassismus und Antisemitismus in der DDR-Gesellschaft und das Verhältnis zum Staat Israel. Während die DDR-Propaganda rechtsextreme Tendenzen und Vorfälle in der BRD immer wieder aufgriff und der BRD die alleinige Verantwortung für die NS-Verbrechen zuschob, zeigten sich die Behörden, so der Eindruck vieler Oppositioneller, sonderbar nachsichtig im Vorgehen gegen solche Erscheinungen im eigenen Land. Im Nahostkonflikt wiederum stand die DDR fest an der Seite der PLO und der arabischen Staaten und brandmarkte Israel als Kriegstreiber, nicht selten unter Benutzung antisemitischer Stereotypen. Zwar wurde diese Mahnwache nicht aufgelöst, jedoch bis zu ihrem vorgesehenen Ende, in den frühen Morgenstunden des 10. Novembers, von einem beachtlichen Polizeiaufgebot umstellt.[2]

Ostdeutsche Vergangenheitsbewältigung und politische Opposition

Zum 8. Mai 1985, dem 40. Jahrestag des Kriegsendes verfassten die Pfarrer Martin Gutzeit und Markus Meckel (letzterer sollte 1990 Außenminister der DDR werden) ein Thesenpapier, in dem sie in der fehlende Aufarbeitung der deutschen Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen ein Haupthindernis für die Überwindung der SED-Herrschaft ausmachten. Trotz der Machtübernahme durch die SED in Ostdeutschland nach 1945 sei den DDR-Bürgern „nationalsozialistisches Gedankengut unverarbeitet in den Köpfen“ zurückgeblieben. Denn nicht durch das Überstülpen einer weiteren Diktatur –auch wenn diese sich selbst als antifaschistisch verstand– könne die Nazivergangenheit verarbeitet werden, sondern nur durch eine freie, demokratische Gesellschaft”. Als Oppositionelle in der DDR schlussfolgerten sie: „[Die] Bewältigung der Vergangenheit enthält die Verpflichtung, gegen das System von Angst und Bedrohung auch innerhalb der Gesellschaft, gegen Unrecht und Machtmissbrauch aufzutreten“.[3]

Zwar fand das Papier Gutzeits und Meckels keine allzu große Verbreitung, doch ähnliche Argumentationslinien finden sich auch bei anderen Dissidenten. Als die DDR-Führung den fünfzigsten Jahrestag der Pogromnacht 1988 nutzten wollte, um sich im „Gedenkwettstreit“ mit der BRD zu profilieren, wurde ihnen von oppositioneller Seite das „Unwahrhaftige und Kampagnenhafte“ dieses Gedenkens vorgehalten. Zum ersten Mal waren großangelegte offizielle Gedenkfeierlichkeiten veranstaltet worden, zu denen auch unzählige Vertreter internationaler jüdischer Organisationen eingeladen worden waren. In Leipzig etwa, wo 200 Menschen an einem unangemeldeten und unabhängigen Schweigemarsch zum Synagogengedenkstein teilnahmen, kursierte ein Flugblatt, in dem es hieß: „Wenn wir das Gedenken an die Pogromnacht für uns annehmen, müssen wir unsere Verantwortung als Mensch wahrnehmen; die Verantwortung für die Unverletzlichkeit der Menschenwürde, […] die Freiheit der Menschen in unserem Land […].“ In den in Berlin als Samisdat erscheinenden Umweltblättern wiederum, kritisierte ein anonymer Kommentator, dass keine wirkliche Auseinandersetzung damit stattfinde, dass „die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in aller Öffentlichkeit geschah, […] da damit aktuelle Fragestellungen verbunden sind, die als bedrohlich von den Herrschenden empfunden werden.“ Tatsächlich ging mit der neuen Offenheit des Gedenkens an die Shoah kein Revision des offiziellen Geschichtsbilds einher. So sagte der Volkskammerpräsident Horst Sindermann etwa wenig überraschend in seiner Gedenkrede, dass „Antisemitismus der Weltanschauung der Arbeiterschaft fremd“ sei.[4]

Als ein Jahr später aus den wenigen DDR-Oppositionellen die treibende Kraft der friedlichen Revolution geworden war, nutzten sie ihre neuen Möglichkeiten und beschäftigten sich auch mit der deutschen Vergangenheit. Sicher war diese nie ein zentrales Thema des Herbsts 1989 oder der kurzen Phase der demokratischen DDR bis zur Vereinigung mit der BRD. Dennoch ging sie nicht im Chaos der Revolution unter. Während in Berlin am 9. November 1989 Günter Schabowski leicht verwirrt die Öffnung der Grenze zu Westdeutschland verkündete, zogen in Leipzig mehrere zehntausend Menschen durch die Stadt um an den 51. Jahrestag der Pogromnacht zu erinnern. Sie waren dem Aufruf der Oppositionsgruppe „Neues Forum“ gefolgt und ließen sich auch von den Nachrichten aus Berlin nicht beirren. [5]

Die Wiedergutmachungsgeste nach der “friedlichen Revolution” und das Zögern der BRD

Im März 1990 nahm der zentrale Runde Tisch eine Erklärung an, in der es hieß, dass aus der besonderen deutschen Verantwortung gegenüber den Juden unter anderem auch ein Asylrecht für verfolgte Juden in die DDR-Verfassung aufgenommen werden sollte. In der bereits eingangs erwähnten, gemeinsamen Erklärung der Volkskammer vom 12. April hieß es: „Diese Schuld darf niemals vergessen werden. Aus ihr wollen wir unsere Verantwortung für die Zukunft ableiten. Das erste frei gewählte Parlament der DDR bekennt sich im Namen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Mitverantwortung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder. Wir empfinden Trauer und Scham und bekennen uns zu dieser Last der deutschen Geschichte.“ Damit wurde der Asylanspruch für Juden bekräftigt und schon wenige Tage später trafen die ersten sowjetischen Juden in der DDR ein. Die gesetzlichen Grundlagen wurden am 11. Juli 1990 nachgereicht.

Obwohl im Sommer 1990 nur etwa 3.000 sowjetische Juden von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, wollte die westdeutsche Seite sie noch vor der Vereinigung wieder abschaffen. Anfang September wies die Bonner Regierung die west- und ostdeutschen Konsulate in der Sowjetunion an, die Einreiseanträge von Juden nicht weiter zu bearbeiten und ließ sich zunächst auch nicht von der harschen Kritik der Medien, der Opposition oder des Zentralrats der Juden in Deutschland umstimmen. Der Spiegel etwa schrieb: „45 Jahre nach dem Holocaust will erstmals wieder eine größere Zahl von Juden in Deutschland heimisch werden – und Bonn macht die Grenzen dicht.

Letztendlich wirkte diese Kritik doch und im Januar 1991 beschlossen die Regierungschefs von Bund und Ländern schließlich sowjetische Juden als Flüchtlinge aufzunehmen. Seither kamen etwa 200.000 Menschen auf diesem Wege nach Deutschland. Auch wenn weniger als die Hälfte von ihnen den jüdischen Gemeinden in Deutschland beitraten, stellen sie doch gut 70% von deren Mitgliedern. Dieser enorme Zustrom sowjetischer Juden veränderte das jüdische Leben in Deutschland stärker als jedes andere Ereignis seit 1945. Letztlich war er die Folge einer besonderen deutschen Vergangenheitsbewältigung, nämlich jener der DDR-Oppositionellen – auch wenn sich das im Sommer 1990 nicht bis Moskau herumsprach.[6]

Anmerkungen :
[1] Antifaschistmusmythos vgl. u.a. Annette Leo und Peter Reif-Spirek,Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999 und Rüdiger Schmidt, “Sieger der Geschichte? Antifaschismus im anderen Deutschland”, in: Thomas Großbölting (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 208-229.
[2] Zur Mahnwache in Berlin: Christian Halbrock, “Mahnwache gegen rechtsextreme Tendenzen im »antifaschistischen Staat”, in: Horch und Guck. Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur, 44/2003, S. 30f. Die zuvor beschriebenen Ereignisse in Leipzig wurden auf Grundlage von Polizeiberichten aus dem Sächsischen Staatsarchiv Leipzig rekonstruiert.
[3] Markus Meckel/Martin Gutzeit, "Der 8. Mai 1945 - unsere Verantwortung für den Frieden" (1985), in: dies., Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit – kommentierte Quellentexte, Köln 1994, S.266-273. Siehe auch: Jeffrey Herf, Divided Memory: the Nazi Past in the two Germanys, Camebridge (Mass.) 1997, S.363-365.
[4] Zum Gedenken an die Pogromnacht in der DDR: Sonia Combe: Des commémorations pour surmonter le passé nazi, in: A l'Est, la mémoire retrouvée, Paris 1990. .Harald Schmid, Antifaschismus und Judenverfolgung: Die "Reichskristallnacht" als politischer Gedenktag in der DDR, Göttingen 2004. Zu den Ereignissen in Leipzig, Freunde und Feinde, Dokumente zu den Friedensgebeten in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989, Leipzig 1994. Der Kommentar findet sich in der Ausgabe 12/1988 der Umweltblätter, S.15-17.
[5] Neues Forum Leipzig: Jetzt oder nie – Demokratie! Leipziger Herbst '89, Leipzig 1989, S.223-225.
[6] Konrad Weiß, Antisemitismus und Israelfeindschaft in der DDR, Nicht nur ein historisches Thema, in: . Robin Ostow, “Juden aus der DDR und die deutsche Wiedervereinigung. Elf Gespräche, Berlin 1996. „Geht doch nach Israel“ und Joschka Fischer „Hurra Deutschland“ in: Der Spiegel 40/1990 (1. Oktober), 66-72 und 40-44.

Siehe französische Übersetzung.

* Stephan Stach ist Historiker und wissenschaftlichen Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Leipzig.

Fotografie : © Georg Kasch, 2011.

 

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