Die Nacht, als die DDR aus dem Schrank kam

Am 9. November 1989 feierte in Berlin der erste und letzte Film der DDR Premiere, der Homosexualität thematisierte. Er konnte das Land nicht mehr verändern – in derselben Nacht fiel die Mauer. Heute gilt der Film als einer der besten der DDR – und als eindrucksvolles Filmdokument einer Zeit, als man noch von einem besseren Deutschland träumte.


Es waren nicht die Menschen der DDR, die den Film „Coming Out“ zu einem Erfolg machten. Während die Ost-Berliner begannen, den westlichen Teil der lange geteilten Stadt zu erkunden, waren es die schwulen Männer aus West-Berlin, die im Winter 1989/90 in den Osten pilgerten, weil sich schnell herumgesprochen hatte, das dort ein Film lief, den man sehen muss.

So erzählte es jedenfalls Matthias Freihof nach der Jubiläumsvorstellung am 9. November 2014 im Berliner Kino International in der Karl-Marx-Allee, in dem 25 Jahre zuvor die Premiere stattgefunden hatte. An jenem 9. November also, an dem die Mauer fiel. „Während unser Film zur Premiere lief, guckten wir aus den Foyerfenstern von oben auf die Straße“, sagt Dirk Kummer, zweiter Hauptdarsteller und Assistent von Regisseur Heiner Carow, „und dachten: Irgendwas ist im Gange.[1] Etwas lag in der Luft.

Sieben Jahre dauert der Kampf gegen die Behörden

So wurde „Coming out“, der als erster Film mit schwuler Thematik die DDR verändern sollte, ein Schlusspunkt des DDR-Kinos. Dabei merkt man ihm den pädagogischen Impetus durchaus an. Er erzählt von Philipp (Matthias Freihof), einem jungen, sehr engagierten Lehrer, der seinen Schülern das freie Denken beizubringen versucht. An seiner Schule lernt er Tanja kennen, eine Kollegin, die ähnlich denkt wie er. Sie beginnen eine Beziehung, er zieht mit in ihre Altbauwohung. Bald aber stolpert Philipp in eine Identitätskrise, als er seiner Jugendliebe begegnet, einem Freund Tanjas. Er irrt durch die Stadt und landet in einer Schwulenbar, aus der er schließlich volltrunken von zwei Barbesuchern in seiner alte Wohnung gebracht wird. Matthias (Dirk Kummer), einen der beiden Helfer, trifft er bald danach durch Zufall wieder. Die beiden verlieben sich. Sie beginnen eine Beziehung, ohne dass Matthias von Tanja erfährt.

Nun muss sich Philipp mit seiner eigenen sexuellen Orientierung auseinandersetzen –eine Aufgabe, an der er vorerst scheitert. Das zeigt eine Parallelszene: Während er vor seinen Schülern eingreift, als Skinheads in der S-Bahn einen Schwarzen zusammenschlagen, rennt er später feige weg, als er beobachtet, wie ein schwuler Mann angegriffen wird. Zur „Katastrophe“ kommt es, als sich Philipp und Matthias in der Pause eines Konzerts wiederbegegnen – vor den Augen Tanjas. Zwar scheitern so beide Beziehungen. Am Ende aber stellt sich Philipp seiner Homosexualität und riskiert den Affront gegen die Schulleitung.

Regie führte Heiner Carow, der sich 1973 mit der „Legende von Paul und Paula“ ein Denkmal setzte, dessen Projekte die SED danach aber jahrelang verhinderte. Jetzt meldete er sich mit 60 Jahren mit einem Paukenschlag zurück: dem ersten Schwulenfilm der DDR[2]. Carow musste sich das Projekt sieben Jahre lang bei der DDR-Filmgesellschaft DEFA erkämpfen, musste aus Westdeutschland hochauflösendes Filmmaterial besorgen (um die Cruisingszene am Märchenbrunnen zu drehen) und immer wieder bei den zuständigen Behörden antichambrieren.

Provokation und Wagnis

Damals genehmigte die staatlichen Filmproduktion DEFA den Film nur, weil Regisseur Carow dem Drehbuch drei Gutachten beilegte: ein Soziologe und ein Mediziner stuften  Homosexualität als unbedenklich ein, ein Historiker schrieb, dass die Kommunisten die Homosexuellen in den KZ von den Nazis beschützt hätten. „Heute“, sagt im Film ein Überlebender, „haben wir die Schwulen vergessen“.

Während die BRD Homosexualität noch bis 1968 strafrechtlich nach dem unter den Nazis verschärften Paragraf 175 verfolgte (Zuchthaus bis zu zehn Jahre), hatte die DDR schon 1957 die Strafverfolgung von schwulen Männern „wegen Geringfügigkeit“ eingestellt; ab 1968 gab es den Paragrafen nicht mehr, nur noch Beziehungen zu Minderjährigen wurden geahndet. Allerdings galt es weiterhin als Makel, schwul oder lesbisch zu sein. Die Stasi nutzte diese Informationen gerne als Erpressungsmittel. In Künstlerkreisen und Bohème war vieles möglich, eine „bürgerliche“ Karriere als offen lebender Homosexueller aber nahezu ausgeschlossen. Akzeptanz oder gar Gleichbehandlung erfuhren sie weder durch das sozialistische Regime noch durch die Gesellschaft. Insbesondere in der Provinz standen Schwule und Lesben unter enormem Druck - sie konnten sich nicht outen, ohne ausgeschlossen und diskriminiert zu werden. Erst in den 1980er Jahren entwickelte sich so etwas wie eine queere Selbstverständigungs- und Protestkultur – in Räumen, die oft genug die evangelische Kirche bereitstellte.

Insofern war „Coming Out“ tatsächlich eine Provokation – und ein Wagnis. Er erzählte von den Nischen in der DDR, von Gegenwelten wie die der Schwulen-Bars mit Männern im Fummel und knutschenden Paaren. Er porträtierte verbissene, autoritäre Schulleiter in einem verknöcherten Bildungssystem. Er zeigte Rechtsradikale und deutete die Auswirkungen der Mangelwirtschaft zumindest an. Kurz: Der Film zeichnete ein ziemlich realistisches Bild der späten DDR. Gleich die ersten Szenen wirken wie ein Schlag ins Gesicht: Ein Krankenwagen rast durch die Silvesternacht im Viertel Prenzlauer Berg. Offensichtlich hat ein junger Mann versucht, sich umzubringen. Das grelle Licht, die altmodische Krankenhausausstattung, die gellenden Befehle des medizinischen Personals – all das wirkt erbarmungslos und mündet wie ein Klimax in Matthias’ Geständnis, er habe sich umbringen wollen, weil er schwul ist.

Weiter als Hollywood

Ungeschönt ist der Blick der Kamera und doch liebevoll, nie entblößend. Carow, selbst heterosexuell, wollte verstehen, ließ sich von seinem Assistenten und Co-Star Kummer immer wieder neu erklären, wie schwules Leben, schwuler Sex funktioniert. So entsteht eine intime Nähe zu den Protagonisten, eine Sympathie, die auch die Sex- und die Selbstbefriedigungsszene organisch und natürlich in die Geschichte einbettet. Hier ist „Coming Out“ so viel weiter als Hollywood heute, das etwa im oscarnominierten „The Imitation Game“ zwar Alan Tourings Homosexualität thematisiert, ihm aber auf der Leinwand jegliche Intimität verweigert.

Dass „Coming Out“ derart natürlich und realistisch wirkt, liegt auch an der Besetzung. Es sind etliche Namen darunter, die heute zu den Stars des deutschen Films gehören, Dagmar Manzel etwa als Tanja, die damals schon ihre heute berühmten Nuancierungen zwischen Kokotte und Mädchen, zwischen verletzlicher Frau und Ironie-Feuerwerk entwickelt hatte. Prägend war aber auch, dass mit Freihof und Kummer das zentrale Paar (neben vielen anderen Schauspielern) selbst schwul waren und wenig Berührungsängste kannten.

Wie gut, wie sehenswert dieser Film war, machte also zuerst in West-Berlin die Runde. Dort wurden auch die Programmmacher der Berlinale, Deutschlands wichtigstem Filmfestival, auf „Coming Out“ aufmerksam. Sie zeigten den Film im Hauptprogramm. Am Ende gewann er neben dem Teddy, dem queeren Preis des Festivals, einen silbernen Bären. Ein Triumph für Heiner Carow und sein Team. Nur die DRR konnte der Film nicht mehr verändern – die war längst damit beschäftigt unterzugehen.

Noten :  
[1] Steven Geyer, „Die Party der Anderen“, Berliner Zeitung, 5.11.2014.
[2] In der BRD hatten da längst bahnbrechende Filme den Diskurs über Homosexualität geprägt: Rosa von Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ (1971), Wolfgang Petersens „Die Konsequenz“ (1977), Frank Riplows „Taxi zum Klo“ (1980) und Wieland Specks „Westler“ (1985).

* Georg KASCH ist Kulturjournalist

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