Die Neuformierung der jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland

Das jüdische Leben in Deutschland kann durch die Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaaten seit 1989 eine zunehmende Vitalität und Pluralität aufweisen. Das trifft in besonderer Weise auch für die heutigen Aktivitäten in den jüdischen Gemeinden Ostdeutschlands zu, die ohne die Einwanderung nicht (mehr) existent wären.


das Ariowitschhaus, das ist das Kultur- und Begnungszentrum der Gemeinde in LeipzigSeit zwei Jahrzehnten steht Berlin für eine Vitalisierung des jüdischen Lebens in unterschiedlichen Bereichen wie Musik, Literatur oder auch Religion in Mitteleuropa. In Berlin lässt sich konzentriert beobachten, was in ganz Deutschland passiert und zu den größten Überraschungen der jüdischen Diaspora gehört: in den letzten 20 Jahren ist es durch die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zu einer Neuformierung, Pluralisierung und Konsoldierung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland gekommen, die mittlerweile – nach Frankreich und Großbritannien – die drittgrößte in Europa ist.

Die Veränderungen betreffen die unterschiedlichsten Bereiche des jüdischen Lebens, im Folgenden soll der Fokus jedoch hauptsächlich auf die Entwicklungen der jüdischen Gemeinden im so genannten Ostdeutschland, also auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, gerichtet werden.

Der Neuanfang

Hier gab es im Jahr 1989 lediglich sieben jüdische Gemeinden, die insgesamt nur noch etwa 400 Mitglieder hatten. Die größte Gemeinde war in Ostberlin, kleinere Gemeinden fanden sich in Chemnitz, Dresden, Erfurt, Halle, Leipzig und Magdeburg. Zum Vergleich: in der Bundesrepublik gab es zu der Zeit circa 26.000 jüdische Gemeindemitglieder[1]. Außerdem fand sich kaum noch ein intaktes religiöses Leben in den kleinen Gemeinden Ostdeutschlands. Die Situation änderte sich, als ab 1989/1990 jüdische Migrantinnen und Migranten aus der Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaaten nach Deutschland emigrierten.

Heute, im Jahr 2011, sind ungefähr 220 000 von ihnen in der Bundesrepublik angekommen, von denen wiederum ungefähr 100 000 den jüdischen Gemeinden beitraten. In das Gebiet der ehemaligen DDR kamen mit 36 000 vergleichsweise wenige Menschen, doch genügte das, die Struktur und das Leben in den jüdischen Gemeinden rigoros zu wandeln: sie bestehen in den neuen Bundesländern mittlerweile zu 99 Prozent aus Personen, die aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Außerdem gab es zehn Neugründungen von Gemeinden, die sich ausschließlich aus Migrantinnen und Migranten gebildet haben, was besonders in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, in denen vorher keine jüdische Gemeinde mehr existierte, der Fall ist. Aber auch an Orten, wo Gemeinden existent waren, verhilft die quantitative Zunahme zu neuem Leben. Ein Zeichen dafür sind die in vielen Städten Ostdeutschlands, zum Beispiel Dresden oder Schwerin, entstehenden Gemeindehäuser und Synagogen. Somit hat die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion die Existenz des jüdischen Lebens in Ostdeutschland gesichert, und prägt dieses in der Gegenwart entscheidend. Der oft vollständige Neuanfang in den jüdischen Gemeinden birgt natürlich zahlreiche Probleme in sich: Oft fehlt es an geeigneten Räumlichkeiten, qualifiziertem Personal, an Kultgegenständen und am Know-How im Gemeindemanagement[2].

Die jüdischen Einwanderer können kaum von den Erfahrungen anderer, alteingesessener Gemeindemitglieder profitieren und werden mit den völlig fremden Regularien und Traditionen des deutschen Körperschafts- und Vereinsrecht konfrontiert. Darüber hinaus gibt es Sprachprobleme und die Integration in den Arbeitsmarkt ist mangelhaft. Letzteres bewirkt, dass durch Abwanderung der jüngeren Gemeindemitglieder die Tendenz, mehr alte als junge Menschen in der Gemeinde zu haben, noch verstärkt wird. In vielerlei Hinsicht sieht es bei diesen Punkten in den alten Bundesländern besser aus[3]. Doch auch die einzelnen jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland unterscheiden sich wesentlich: Ihre Entwicklungen hängen davon ab, ob die Gemeinden Neugründungen sind oder nicht, ob sie in einer Großstadt oder in einer kleineren Stadt angesiedelt sind.

Jüdische Gemeinden als religiöse Institutionen

Hinsichtlich des religiösen Lebens stehen die jüdischen Gemeinden vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen muss ein religiöses Leben aufrecht erhalten werden, obwohl es die oben genannten Defizite gibt, und fast keine Gemeinde zum Beispiel ihren eigenen Rabbiner hat. Zum anderen immigrieren mit den Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion keine Menschen mit jüdischer Religion, sondern Menschen, denen eine jüdische Nationalität zugeschrieben wurde: Die Eintragung der jüdischen Nationalität in die sowjetischen Personaldokumente, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, stellte die Voraussetzung für die Einreise dar.

Wie alle anderen Bürger der Sowjetunion wurden die Juden auch durch die atheistische, wissenschaftliche Weltsicht beeinflusst. Zusätzlich litten Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion unter jahrelangen staatlichen Repressionen, das heißt, das Verbot der Religionsausübung oder Diskriminierung, wodurch die meisten ihre Verbindung zum Judentum verloren haben. Somit ist die Mehrzahl der Jüdinnen und Juden bei der Aufnahme in die deutschen jüdischen Gemeinden säkular. Damit stehen die Gemeinden vor der Herausforderung, wenn sie weiterhin dem Selbstverständnis als religiöse Institution gerecht werden wollen, säkulare Menschen in religiöse Strukturen zu integrieren beziehungsweise diese mit ihnen aufzubauen.

Dieser Widerspruch wird in den ostdeutschen Gemeinden auf verschiedene Art und Weise gelöst, ist aber in den meisten jüdischen Gemeinden zumindest noch teilweise, wenn nicht ganz, erhalten. Das heißt, dass sich eine sehr kulturelle Sichtweise des Judentums seitens der Migrantinnen und Migranten auch im Gemeindeleben wiederfindet und Treffen untereinander, kulturelle Veranstaltungen und die Pflege der russischen Sprache im Vordergrund stehen[4]. Diese Entwicklungen werden von alteingesessenen Gemeindemitgliedern aus den eigenen Reihen, falls vorhanden, oder aber auch von größeren, meist westdeutschen Gemeinden kritisiert: Sie fürchten eine Russifizierung des Gemeindelebens oder die Entwicklung der jüdischen Gemeinde zum „Kulturclub“.

Der Aufgabe der Erhaltung des religiösen Lebens wird in den Gemeinden meist von einem kleinen Kreis von Aktiven übernommen. Zum einen sind das die alteingesessenen Gemeindemitglieder, die schon durch ihr sprachliches Kapital mehr Macht in der Gemeinde besitzen und auf Erfahrungen im Gemeindemanagement, aber auch auf Kontakte zu lokalen Institutionen und Politikern zurückgreifen können[5]. Weil die alteingesessenen Mitglieder aber nur eine geringe Zahl ausmachen, besteht der Kreis der Aktiven in jeder ostdeutschen Gemeinde auch mit aus Zuwanderinnen und Zuwanderern; bei vielen, nicht nur den neu entstandenen jüdischen Gemeinden, besteht dieser Kreis sogar komplett aus den Zugewanderten.

Es sind Personen, die auf religiöses Kapital in ihrer Familie, meist der Großelterngeneration, zurückgreifen können oder die sich schon in den 1990er Jahren in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion im Zuge der Wiederentdeckung des Religiösen mit ihrer jüdischen Herkunft befasst haben. Nicht selten sind es auch Jüdinnen und Juden, die sich in Deutschland nach der Aufnahme in eine Gemeinde mit jüdischer Tradition und Religion, auseinandergesetzt haben. Ein Prozess, der an manchen Punkten durch Religionslehrerinnen und Religionslehrern oder Rabbinern unterstützt wurde.

Pluralisierung und Konsoldierung

In manchen Städten wird diese Auseinandersetzung der Migrantinnen und Migranten nicht nur vom religiösen Personal der Gemeinde, sondern auch von globalen, streng-religiösen Institutionen, die sich in der Region ansiedeln, unterstützt. In Ostdeutschland sind die aktiven Organisationen Chabad Lubawitsch und die Lauder Foundation. Chabad Lubawitsch gehört dem chassidischen Judentum an, und eröffnet seit den 1960er Jahren Zentren in aller Welt, in denen ein Chabad-Paar lebt, das zum Ziel hat, (nichtreligiöse) Juden näher an jüdische Religion und Tradition zu bringen.

Die Lauder Foundation wurde 1987 von Ronald Stephen Lauder mit dem Vorsatz gegründet, das jüdische Leben in Mittel- und Osteuropa wiederzubeleben. Dazu werden vor allem jüdische Bildungseinrichtungen etabliert. In den Gemeinden, in denen zum aktiven Kreis religiös gewordene (junge) Jüdinnen und Juden gehören, entstehen neue Dynamiken, weil diese jungen Menschen andere Ziele verfolgen als die säkular geprägten Gemeindemitglieder. So ist es möglich, dass in Ostdeutschland, wo in strukturell schwache Gemeinden säkulare Jüdinnen und Juden eingewandert sind, religiös sehr aktive Gemeinden entstanden sind[6]. Zum anderen findet sich im Osten von Deutschland auch die liberale Bewegung wieder, auch wenn sie hier viel schwächer ist als im Westen von Deutschland, was unter anderen daran liegen mag, dass sie dort von alteingesessenen Gemeindemitgliedern getragen wird[7]. Es sei noch einmal zu betonen, dass durch ortsspezifische Merkmale die Entwicklungen der jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland sehr unterschiedlich verlaufen. Und auch wenn nicht überall ein starkes religiöses Leben oder eine Pluralisierung zu konstatieren ist, so doch eine Konsoldierung des Gemeindelebens.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Elizier Ben Rafael et al.: Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutschland. 2010: http://www.zwst.org/cms/documents/241/de_DE/PINCUSSTUDIEDEUTSCHNOV162010.pdf;
u.a. auch zu Konflikten zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern
[2] Olaf Glöckner: Zuwanderung und Integration russischer Juden in Ostdeutschland, in: Karin Weiss, Hala Kindelberger (Hg.): Zuwanderung und Integration in den neuen Bundesländern. Zwischen Transferexistenz und Bildungserfolg, Freiburg 2007.
[3] Elizier Ben Rafael et al., S.106.
[4] Julius H. Schoeps, Olaf Glöckner: Fifteen Years of Russian-Jewish Immigration to Germany: Successes and Setbacks, in: Y. Michal Bodemann (Hg.): The New German Jewry and the European Comtext, S.148ff.
[5] Elizier Ben Rafael et al., S.37.
[6] Vgl. zum Beispiel die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig. Hier findet der Gottesdienst zwei bis drei Mal täglich statt, was eine hohe religiöse Aktivität zeigt.
[7] Elizier Ben Rafael et al., S.38.

Siehe französische Übersetzung.

* Melanie EULITZ ist doktorandin am Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig.

Fotografie: das Ariowitschhaus, das ist das Kultur- und Begnungszentrum der Gemeinde in Leipzig